Über das Schweigen

Man spricht viel über Sprache, wenig über Schweigen. Dabei ist das Schweigen nicht bloß die Abwesenheit von Worten, sondern deren Voraussetzung. Wer nicht schweigen kann, kann auch nicht sprechen – nicht wirklich. Seine Worte sind Lärm, nicht Mitteilung.

Die Moderne hat das Schweigen vergessen. Sie feiert die Expression, die Selbstdarstellung, das endlose Reden über das eigene Befinden. Doch wer sich ununterbrochen äußert, hat nichts zu sagen. Die Klassik wusste das. Ihre Texte sind sparsam, jedes Wort ist abgewogen. Sie vertrauen darauf, dass der Leser mitdenkt – dass er die Pausen versteht.

Schweigen ist nicht Resignation, sondern Konzentration. Es ist der Raum, in dem Gedanken Form annehmen können. Wer schreibt, muss schweigen können. Sonst schreibt er nicht, sondern schwatzt.

Die Geometrie der Verse

Ein Gedicht ist kein Gefühlsausbruch, sondern eine Konstruktion. Es folgt Regeln – nicht willkürlichen, sondern solchen, die sich aus der Sprache selbst ergeben. Das Metrum ist keine Fessel, sondern ein Gerüst. Es gibt dem Gedanken Halt.

Freie Verse sind selten frei. Meist sind sie nur formlos. Die wahre Freiheit liegt nicht im Verzicht auf Regeln, sondern in ihrer Beherrschung. Wer das Sonett beherrscht, kann es variieren. Wer nie ein Metrum gelernt hat, schreibt Prosa mit Zeilenumbrüchen.

Die Form ist nicht Dekoration, sondern Erkenntnisinstrument. Sie zwingt zur Präzision. Sie verbietet das Ungefähre, das Beiläufige. Ein gutes Gedicht ist wie ein mathematischer Beweis: Jeder Schritt muss stimmen.

Notiz zur Übersetzung

Übersetzen heißt nicht, Wörter auszutauschen. Es heißt, einen Gedanken in eine andere Sprachgestalt zu überführen – und dabei zu erkennen, dass nicht alles übertragbar ist. Manche Texte sind unlösbar mit ihrer Ursprungssprache verbunden. Sie zu übersetzen hieße, sie zu zerstören.

Aber die meisten Texte können übersetzt werden, wenn man bereit ist, der Form Vorrang vor dem Wortlaut zu geben. Ein guter Übersetzer ist kein Diener des Originals, sondern sein Anwalt in einer fremden Sprache. Er kämpft nicht für die Wörter, sondern für die Intention.

Die Frage ist immer: Was will dieser Text? Und wie kann ich das in meiner Sprache erreichen? Treue ist keine mechanische Reproduktion, sondern ein kreatives Nachvollziehen.

Warum Klassik?

Die Klassik wird oft missverstanden – als Flucht in die Vergangenheit, als Verweigerung der Gegenwart. Das Gegenteil ist wahr. Die Klassik ist der Versuch, in der Gegenwart Orientierung zu finden, indem man auf Prinzipien zurückgreift, die sich bewährt haben.

Was sind diese Prinzipien? Maß, Klarheit, Ordnung. Keine Mode, keine Ideologie, keine Sentimentalität. Die Klassik traut dem Menschen zu, selbst zu denken. Sie belehrt nicht, sie zeigt. Sie appelliert nicht an Gefühle, sondern an die Vernunft.

Das macht sie heute fremder als je zuvor. Unsere Zeit will Betroffenheit, nicht Erkenntnis. Sie will Authentizität, nicht Form. Sie will das Rohe, nicht das Geschliffene. Die Klassik widerspricht dem. Sie sagt: Erst die Form ermöglicht die Freiheit. Erst die Regel ermöglicht das Spiel. Erst die Distanz ermöglicht den Blick.